Freitag, 11. Januar 2013

Das Mysterium der Liebe - Eine weise Vorausschau

Eine kleine Geste der Liebe

Eine Tat beeindruckt mehr als tausend Worte.
Henrik Ibsen

Als ich heranwuchs, unterbrach mein Vater immer das, was er gerade tat, und hörte mir zu, während ich ihm atemlos alles erzählte, was ich an diesem Tag erlebt hatte. Für ihn war kein Thema tabu. Der schlaksigen, linkischen Dreizehnjährigen zeigte Dad, wie eine Dame steht und geht. Als ich mich mit siebzehn verliebte, wollte ich von ihm wissen, wie ich einen neuen Schüler an der Schule becircen könnte.
"Bleib  bei neutralen Themen", empfahl er mir, "und frage ihn nach seinem Auto"
Ich befolgte seine Anregungen und berichtet ihm täglich von den erzielten Fortschritten. "Terry hat mich zu meinem Spind begleitet!" - "Weißt du was? Terry hat meine Hand gehalten!" - "Dad! Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehe!" Terry und ich gingen über ein Jahr zusammen, und bald meinte Dad scherzhaft: "Ich kann dir sagen, wie man einen Mann angelt; das Schwierig ist, ihn wieder loszuwerden."
Als ich den College-Abschluss in der Tasche hatte, war ich bereit, mich abzunabeln. Ich bekam einen Job als Sonderschullehrerin in einer Schule in Coachelle, einer Wüstenstadt in Kalifornien, rund 170 Meilen von zu Hause. Es war kein Traumjob. Die Sozialwohnungen gegenüber der Schule waren ein Refugium für Drogenkonsumenten. Nach Einbruch der Dunkelheit lungerten Banden von Jugendlichen um die Schule herum. Viele meiner Schützlinge, emotional gestörte zehn- bis vierzehnjährige Jungen, waren wegen Ladendiebstahls, Autodiebstahls oder Brandstiftung festgenommen worden.
"Sei vorsichtig", warnte Dad mich bei einem meiner häufigen Wochenendbesuche zu Hause. Er machte sich Sorgen, weil ich allein lebte, aber ich war dreiundzwanzig, begeistert und naiv, und ich musste auf eigenen Füßen stehen. außerdem waren die Lehrerjobs 1974 rar, und ich schätzte mich glücklich, überhaupt einen zu haben.
"Mach dir keine Sorgen", beruhigte ich ihn, als ich vor meiner Rückreise zu meinem Wüstenjob das Auto belud.
Ein paar Abende später blieb ich nach dem Unterricht noch in der Schule, um mein Klassenzimmer umzuräumen. Als ich fertig war, machte ich das Licht aus und schloss die Tür. Dann steuerte ich auf das Tor zu. Es war verschlossen! Ich sah mich um. Alle - die Lehrer, das Aufsichtspersonal, die Sekretärinnen - waren schon nach Hause gegangen. Sie wussten nicht, dass ich noch da war, und hatten mich auf dem Schulgelände allein gelassen. Ich warf einen Blick auf meine Uhr - es war fast sechs. Ich war so in meine Arbeit vertieft gewesen, dass ich nicht auf die Zeit geachtet hatte.
Nachdem ich alle Ausgänge überprüft hatte, fand ich ein Tor an der Rückseite der Schule, unter dem ich mich gerade so durchquetschen konnte. Ich schob als Erstes meine Handtasche durch, legte mich auf den Rücken und zwängte mich langsam voran.
Dann nahm ich meine Tasche wieder an mich und ging zu meinem Auto, das auf einem Feld hinter dem Gebäude geparkt war. Gespenstische Schatten verdunkelten den Schulhof.
Plötzlich hörte ich Stimmen. Ein schneller Rundumblick zeigte mir, dass mindestens acht Jungen im Highschool-Alter mir folgten. Sie waren einen halben Block entfernt. Trotz der einbrechenden Dunkelheit sah ich, dass sie die Abzeichen einer Gang trugen.
"Hey!" rief einer von ihnen. "Bist du Lehrerin?"
"Nee, die is viel zu jung - muss ´ne Assistentin sein!", meinte ein anderer.
Als ich schneller ging, lästerten sie weiter. "Hey! Die is vielleicht scharf!"
Ich legte noch einen Schritt zu und griff in meine Schultertasche, um meine Schlüsselbund herauszuholen. Ich hab den Schlüssel in der Hand, dachte ich, ich kann das Auto aufsperren und einsteigen, bevor ... Mein Herz hämmerte wie wild.
Panisch tastete ich in meiner Handtasche herum, aber der Schlüsselbund war nicht da!
"Hey! Jetzt holen wir uns die Lady!", schrie ein Junge.
Lieber Gott, bitte hilf mir, betete ich im Stillen. Plötzlich umschlossen meine Finger einen einzelnen Schlüssel in meiner Handtasche. Ich wusste gar nicht, ob er überhaupt für mein Auto war, aber ich nahm ihn heraus und hielt ihn fest in der Hand.
Ich sprintete über den Rasen zu meinem Auto und probierte den Schlüssel. Er passte! Ich öffnete die Tür, glitt auf den Sitz und verriegelte die Tür von innen - im selben Augenblick umzingelten die Jugendlichen den Wagen, traktierten die Seiten mit Fußtritten und schlugen auf das Dach ein. Zitternd ließ ich den Motor an und fuhr davon.
Später gingen mehrere Lehrer mit mir zur Schule zurück. Mit Taschenlampen fanden wir den Schlüsselbund auf dem Boden neben dem Tor, wo er herausgefallen war. als ich mich darunter durchgezwängt hatte.
Als ich in meine Wohnung zurückkam, klingelte das Telefon. Es war Dad. Ich erzählte ihm nichts von meinem Horrorerlebnis. Ich wollte ihn nicht beunruhigen.
 "Ach, ich gab ganz vergessen, es dir zu sagen", meinte er. "Ich hab einen zusätzlichen Autoschlüssel machen lassen und ihn in deine Handtasche gelegt - nur für den Fall, dass du ihn mal brauchen solltest."
Heute bewahre ich diesen Schlüssel in der Schublade meiner Frisierkommode auf und halte ihn in großen Ehren. Immer, wenn ich ihn in die Hand nehme, erinnere ich mich an all die großartigen Dinge, die Dad im Lauf der Jahre für mich getan hat. Ich weiß, dass seine Weisheit, seine Anleitung und seine Bestätigung für mich immer noch ganz wichtig sind, auch wenn er inzwischen achtundsechzig ist und ich vierzig bin. Vor allem aber stehe ich staunend vor der Tatsache, dass seine aufmerksame Geste, einen zusätzlichen Schlüssel anfertigen zu lassen, mir vielleicht sogar das Leben gerettet hat. Und ich verstehe, dass eine kleine Geste der Liebe Außergewöhnliches bewirken kann.
Sharon Whitley

Aus: "Hühnersuppe für die Seele - Weitere Geschichten, die zu Herzen gehen"
Jack Canfield / Victor Hansen

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