Dienstag, 23. August 2011

Der kleine Junge

Einmal ging ein kleiner Junge in die Schule. 
Es war ein ziemlich kleiner Junge. 
Und es war eine ziemlich große Schule. 
Aber als der kleine Junge
sah, dass er in sein Klassenzimmer 
direkt durch die Außentür gehen konnte, 
war er glücklich. Und die Schule erschien 
nicht mehr so groß.

Eines Morgens, 
als der kleine Junge schon eine Weile 
in der Schule war, 
sagte die Lehrerin:
"Heute malen wir ein Bild"
"Gut!" dachte der kleine Junge.
Er malte gern Bilder.
Er konnte alles mögliche malen:
Löwen und Tiger,
Hühner und Kühe,
Eisenbahnen und Boote -
Und er holte seinen Buntstiftkasten heraus
und fing an zu malen.

Aber die Lehrerin sagte:
"Wartet! Es ist noch nicht Zeit anzufangen!"
Und sie wartete, bis jeder bereit war.

"Jetzt", sagte die Lehrerin,
"Malen wir Blumen."
"Gut! dachte der kleine Junge,
er malte gern Blumen,
und er fing an, wunderschöne zu malen,
mit seinen rosa- und orangefarbenen
und blauen Buntstiften.

Aber die Lehrerin sagte:
"Wartet! Und ich werde euch zeigen, wie."
Und sie zeichnete eine Blume an die Tafel.
Sie war rot mit einem grünen Stengel.
"So", sagte die Lehrerin,
"Jetzt könnt ihr anfangen."

Der kleine Junge sah die Blume der Lehrerin an.
Dann sah er seine eigene Blume an.
Er mochte seine Blume lieber als die der Lehrerin.
Aber das sagte er nicht,
er drehte nur sein Blatt um
und malte eine Blume wie die der Lehrerin.
Sie war rot mit einem grünen Stengel.

An einem anderen Tag,
als der kleine Junge die Außentür
ganz alleine geöffnet hatte,
sagte die Lehrerin:
"Heute machen wir etwas aus Ton."
Gut!" dachte der Junge.
Er mochte Ton.
Er konnte alles mögliche aus Ton machen:
Schlangen und Schneemänner,
Elefanten und Mäuse,
Autos und Lastwagen -
und er fing an, seine Tonkugel
zu ziehen und zu drücken.

Aber die Lehrerin sagte:
"Wartet!" Es ist noch nicht Zeit anzufangen!"
Und sie wartete, bis jeder bereit war.

"Jetzt", sagte die Lehrerin,
"Machen wir eine Schale."
"Gut!" dachte der kleine Junge,
und er fing an, Schalen zu machen,
die alle möglichen Formen und Größen hatten.

Aber die Lehrerin sagte:
"Wartet! Und ich werde euch zeigen, wie."
Und sie zeigte jedem, wie man
eine tiefe Schale machte.
"So", sagte die Lehrerin,
"jetzt könnt Ihr anfangen".

Der kleine Junge sah die Schale der Lehrerin an,
dann sah er seine eigene an,
Er mochte seine Schale lieber als die der Lehrerin.
Aber das sagte er nicht,
er rollte seinen Ton nur wieder zur Kugel zusammen
und machte eine Schale wie die der Lehrerin.
Es war eine tiefe Schale.

Und recht bald
lernte der kleine Junge, zu warten
und zu beobachten
und alles genau wie die Lehrerin zu machen.
Und recht bald
machte er nichts mehr aus sich selbst heraus.

Dann geschah es,
dass der kleine Junge und seine Familie
in ein anderes Haus zogen,
in eine andere Stadt,
und der kleine Junge
musste in eine andere Schule gehen.

Diese Schule war sogar noch größer
als die andere,
und es gab keine Außentür, die
in sein Klassenzimmer führte.
Er musste einige große Stufen hochsteigen
und durch eine lange Halle gehen.
um in sein Klassenzimmer zu kommen.

Und am allerersten Tag,
an dem er dort war, sagte die Lehrerin:
"Heute malen wir ein Bild."
"Gut!" dachte der kleine Junge,
und er wartete, dass die Lehrerin
ihm sagen würde, was er tun sollte.
Aber die Lehrerin sagte gar nichts.
Sie ging nur im Klassenzimmer herum.

Als sie zu dem kleinen Jungen kam,
sagte sie: "Willst du kein Bild malen?"
"Doch", sagte der kleine Junge.
"Was sollen wir malen?"
"Ich weiß es nicht, bevor du es nicht malst",
sagte die Lehrerin.
"Wie soll ich es malen?" fragte der kleine Junge.
"Na, ganz wie du willst", sagte die Lehrerin.
"Und jede Farbe?" fragte der kleine Junge.
"Jede Farbe", sagte die Lehrerin,
"wenn jeder das gleiche Bild malt
und die gleichen Farben benutzt,
wie soll ich wissen, wer was gemalt hat,
und welches welches ist?"
"Ich weiß nicht", sagte der kleine Junge.
Und er fing an, rosa- und orangefarbene
und blaue Blumen zu malen.

Er mochte seine neue Schule,
auch wenn sie keine Außentür hatte,
die direkt von draußen hineinführte!
Helen E. Buckley

Aus: "Hühnersuppe für die Seele"
Jack Canfield / Mark Hansen

Diese Geschichte erzählt mir sehr viel darüber, warum unsere Gesellschaft so ist wie sie ist.

Menschen, die immer gesagt bekommen wie und was sie zu tun und zu lassen haben, verlernen irgendwann ihr Leben selbstbestimmt zu organisieren, rufen ein Leben lang nach Führung und wundern sich dann, dass die Führung nach der sie riefen gegen ihre Interessen handelt. 

Paulinchen

2 Kommentare:

  1. Meine Beste,
    Die Außentür ist der Schlüssel -sicher - aber ich kann ihn nicht greifen. Ist er glücklich, nahe der Tür zu sein um in das Zimmer hinein zu gelangen oder eher dem Fluchtweg nahe zu sein? Bedeutet das Verhalten der Lehererin in der zweiten Schule die "Nichtnotwendigkeit" einer Außentür?

    AntwortenLöschen
  2. Hallo Rainer,

    die Außentür steht meines Erachtens für beides: Anfangs Freude schnell schnell ins Klassenzimmer zu kommen und dann als Fluchtweg, der aber nicht genutzt werden kann, weil man zur Schule muss. In der zweiten Schule lernt er dann, dass es nicht darauf ankommt, ob er sein Klassenzimmen über eine Außentür erreicht oder nicht, sondern auf die Lehrerin.

    AntwortenLöschen