Freitag, 8. Juli 2011

Vergiss nicht, wir ziehen Kinder auf, keine Blumen!

Mein Nachbar David hat zwei kleine Kinder, fünf und sieben Jahre alt. Eine Tages wollte er seinem siebenjährigen Sohn Kelly beibringen, wie man mit dem gasbetriebenen Rasenmäher umgeht. Als er eben im Begriff war, dem Kleinen zu zeigen, wie man am Ende des Rasens die Maschine wendet, rief Jan, seine Frau, ihm vom Haus her eine Frage zu. Als David sich umdrehte, um ihr zu antworten, schob Kelly den Mäher geradewegs durch die Blumenrabatte und hinterließ dort eine breite Spur der Verwüstung.

Als David sich ihm wieder zuwandte und sah, was passiert war, geriet er völlig außer sich. Seine Blumenbeete hatten ihn eine Menge Zeit und Mühe gekostet, und sie erregten den Neid der gesamten Nachbarschaft. In dem Augenblick, als er Luft holte, um seinen Sohn anzubrüllen, kam Jan schnell auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: "David, bitte vergiss nicht ... wir ziehen Kinder auf, keine Blumen!"

Das erinnerte mich daran, wie wichtig es ist, dass wir als Eltern unsere Prioritäten setzen. Kinder und ihr Selbstwertgefühl sind wichtiger als irgendein Gegenstand, der vielleicht zerbricht oder zerstört wird. Die Fensterscheibe geht durch einen Baseball in die Brüche, die Lampe wird von einem achtlosen Kind vom Tisch gestoßen, oder der Teller wird in der Küche fallen gelassen und zerbricht. Jedenfalls waren die Blumen bereits tot. Man muss immer darauf achten, nicht noch mehr zum Unheil beizutragen, indem man die Lebensgeister eines Kindes erstickt und seine Daseinsfreude dämpft.

Vor einigen Wochen kaufte ich einen Sportmantel und ich unterhielt mich mit Mark Michaels, dem Besitzer des Geschäfts, über elterliche Probleme. Er erzählte mir, er sei mit seiner Frau und seiner Tochter kürzlich in einem Restaurant gewesen, und während des Abendessens habe die Siebenjährige ein Glas Wasser umgestoßen. Nachdem das Wasser ohne irgendwelche elterlichen Vorwürfe wieder aufgewischt worden war, blickte die  Kleine zu ihnen auf und sagte: "Wisst ihr, ich bin wirklich froh, dass ihr nicht so seid wie andere. Die meisten Eltern von meinen Freunden oder Freundinnen hätten sie angeschrien und ihnen eine Vortrag gehalten, dass sie mehr aufpassen sollen. Danke, dass ihr's nicht so gemacht habt!"

Einmal, als ich mit Bekannten zu Abend aß, passierte etwas Ähnliches. Ihr fünfjähriger Sohn warf am Tisch ein Glas Milch um. Als die Eltern sofort auf ihn losgingen, warf ich absichtlich mein eigenes Glas um. Und als ich anschließend zu erläutern begann, dass mir so etwas auch noch im Alter von achtundvierzig Jahren passierte, fing der Kleine an zu strahlen, und die Eltern begriffen anscheinend, was ich meinte, und lenkten ein. Wie leicht man doch vergisst, dass wir uns alle noch im Lernprozess befinden.

Kürzlich hörte ich eine Geschichte von Stephen Glenn, einem berühmten Wissenschaftler, der auf seinem Forschungsgebiet zu mehreren sehr wichtigen neuen Ergebnissen gekommen war. Er wurde von einem Zeitungsreporter gefragt, wieso er seiner Ansicht nach über so viel mehr kreative Fähigkeiten verfüge als ein Durchscnittsmensch. Was sei es, das ihn von anderen unterscheide?

Der Wissenschaftler erwiderte, seiner Meinung nach käme dies von einem Erlebnis mit seiner Mutter zu einer Zeit, als er ungefähr zwei Jahre alt war. Er hatte damals versucht, eine Flasche Milch aus dem Kühlschrank zu nehmen; sie war schlüpfrig, rutschte ihm aus den Händen, fiel hinunter, und der gesamte Inhalt ergoss sich auf den Küchenboden - ein beachtlicher Milchsee!

Als seine Mutter in die Küche trat, schrie sie ihn weder an, noch hielt sie ihm eine Strafpredigt, noch bestrafte sie ihn. Sie sagte nur: "Robert, da hast du ja eine großartige und herrlich Schweinerei angerichtet! Eine so gewaltige Milchpfütze habe ich noch selten gesehen. Magst du ein bisschen darin herumplanschen, bevor wir alles saubermachen?"

Das tat er dann auch. Nach ein paar Minuten sagte seine Mutter: "Weißt du, Robert, wenn du eine solche Schweinerei gemacht hast, solltest du auch alles aufputzen und in Ordnung bringen. Wie wär's, wenn du das jetzt machen würdest? Du kannst einen Schwamm, ein Handtuch oder einen Schrubber benutzen. Was wäre dir am liebsten?" Robert entschied sich für den Schwamm, und gemeinsam wischten sie die verschüttete Milch auf.

Dann erkläre seine Muttter: "Weißt du, wir hätten vorher einfach ausprobieren müssen, wie man mit zwei so winzigen Händen eine Milchflasche trägt. Jetzt gehen wir einmal in den Hof hinaus, füllen die Flaschen mit Wasser und sehen dann, ob du herausfindest, wie du sie am besten tragen kannst, damit sie nicht herunterfällt." Der kleine Junge lernte dann, dass er die Flasche gut und sicher tragen konnte, wenn er sie oben am Hals unmittelbar unter dem Rand umfasste. Es war eine wunderbare Erfahrung.

Der berühmte Wissenschaftler fügte hinzu, in diesem Augenblick hätte er begriffen, dass er keine Angst davor zu haben brauchte, Fehler zu machen. Stattdessen merkte er, dass Fehler die Gelegenheit boten, etwas Neues zu lernen - und das ist schließlich der Kernpunkt aller wissenschaftlichen Experimente. Selbst wenn das Experiment nicht funktioniert, kann man daraus wertvolle Erkenntnisse schöpfen.

Wäre es nicht großartig, wenn alle Eltern so reagieren würden wie damals Roberts Mutter?

Eine letzte Geschichte, die diese Einstellung auch unter Erwachsenen veranschaulicht, erzählte Paul Harvey vor mehreren Jahren im Radio. Eine junge Frau fuhr von der Arbeit nach Hause, als sie sich mit ihrer Stoßstange in die eines anderen Wagens verhakte. Schluchzend sagte sie, dies sei ein ganz neuer Wagen, erst vor ein paar Tagen erstanden, und wie könne sie nur ihrem Man klar machen, dass ihr das passiert sei?

Der Fahrer des anderen Wagnes war zwar mitfühlend, bestand aber darauf, dass sie die Nummern der Zulassung und des amtlichen Kennzeichens austauschten. Als die junge Frau in einen großen braunen Umschlag griff, um die Dokumente herauszuholen, fiel ein Blatt Papier heraus. In markanter männlicher Schrift waren folgende Worte darauf geschrieben: "Im Fall eines Unfalls - denk daran, Schätzchen, du bist es, die ich liebe, nicht der Wagen!"

Vergessen wir nicht, die Lebensfreude unserer Kinder ist wichtiger als alles Materielle. Wenn wir das im Gedächtnis bewahren, werden bei ihnen Selbstachtung und Liebe herrlicher blühen und gedeien, als das irgendeinem Blumenbeet je gelingen könnte.
Jack Canfield


Aus: "Hühnersüppchen für die Seele"
Jack Canfield / Mark Victor Hansen

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