Montag, 7. Februar 2011

Sehen, wirklich sehen

Seine Nase sah sehr schmutzig aus, so als hätte ihn seine Mutter als kleines Baby fallen lassen. Seine Ohren waren für seinen Kopf zu groß geraten - und das um ganze zwei, vielleicht sogar zweieinhalb Größen. Und seine Augen erst! Seine Augen wölbten sich so stark hervor, als sprängen sie im nächsten Moment aus ihren Höhlen. Was er an hatte, war schön, das musste Tim zugeben, aber er war trotzdem das unscheinbarste Kind, das er je gesehen hatte.

Warum stand der Neue dann also in einer Weise an den Spind von Jennifer Lawrence gelehnt, als seien sie die besten Freunde oder so was in der Art? Sie war Cheerleader und eines der coolsten Mädchen der Schule. Außerdem lächelte sie den Neuen auch noch an und rümpfte nicht so lustig ihre Nase, wie sie es immer tat, wenn sie Tim anschaute! Seltsam, wunderte er sich, wirklich seltsam.

Gegen Mittag hatte Tim den Neuen vergessen. Er setzte sich an seinen gewohnten Platz - ganz allein an den Tisch in der Ecke. Tim war ein Einzelgänger. Er war nicht so hässlich wie der Neue, nur etwas dick und galt als komisch. Niemand sprach viel mit Tim, doch er war daran gewöhnt. Er hatte sich damit abgefunden.

Tim hatte sein Erdnussbuttersandwich mit Ketschup (er aß alles mit Ketschup) noch nicht ganz aufgegessen, als sein Blick zufällig auf den Neuen fiel. Der hielt sein Tablett in der Hand, stand Jennifer gegenüber und grinste, so als hätte er gerade die beste Note im Mathetest geschrieben. Sie grinste ebenfalls. Dann rückte sie ein Stück zur Seite und machte auf der Bank neben ihr Platz. Seltsam, wirklich seltsam.

Und noch seltsamer war das, was der Neue machte. Tim hätte sich auf den Platz gestürzt, und zwar so schnell, dass sein Lunchpaket zurückgeblieben wäre, einfach in der Luft gehangen hätte. Doch nicht so dieser Neue. Er schüttelte seinen Kopf, schaute umher und steuerte direkt auf Tims Tisch zu.

"Hast du was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?"

Einfach so. Hast du was dagegen, wenn ich mich zu dir setze? Als würde der ganze achte Jahrgang darauf warten, an seinem Tisch sitzen zu dürfen oder so in der Art, dachte Tim.

"Klar", sagte Tim. "Ich meine neun. Ich hab nichts dagegen."

Also setzte der Neue sich zu Tim. Und er kam Tag für Tag wieder, so lange bis sie Freunde wurden. Richtige Freunde.

Tim hatte vorher nie einen richtigen Freund gehabt, doch Jeff - so hieß der Junge - lud ihn zu sich nach Hause ein, zu Ausflügen mit seinen Eltern und sogar zum Wandern. Richtig - zum Wandern!

Das Komische war ... eines Tages stellte Tim fest, dass er nicht mehr so dick war. All dieses Wandern schätzungsweise. dachte Tim. Die anderen Kinder redeten nun mit ihm, nickten ihm auf den Schulfluren zu und fragten ihn sogar nach den Schulaufgaben. Auch Tim unterhielt sich mit ihnen. Er war kein Einzelgänger mehr.

Einmal, als Jeff sich zu ihm an den Tisch setzte, fragte Tim ihn: "Warum hast du dich an jenem ersten Tag an meinen Tisch gesetzt? Hat Jen dich nicht aufgefordert, dich mit an ihren Tisch zu setzen?"

"Klar, sie ist für mich zur Seite gerückt. Aber sie brauchte mich nicht."

"Brauchte dich?"

"Du hast mich gebraucht."

"Ich hab dich gebraucht?"

Tim hoffte, dass ihnen niemand zuhörte. Das war wirklich eine dumme Unterhaltung, dachte er.

"Du hast ganz allein dagesessen", erklärte Jeff. "Du hast einsam und verängstigt ausgesehen."

"Verängstigt?"

"Ja, verängstigt. Ich kenne diesen Blick. Ich habe früher auch so geschaut, genau wie du."

Tim konnte es nicht glauben.

"Vielleicht ist es dir entgangen, aber ich bin nicht gerade der gut aussehendste Junge an der Schule", fuhr Jeff fort. "in meiner früheren Schule saß ich ganz allein da. Ich hatte Angst aufzublicken und zu sehen, dass sich jemand über mich lustig machte."

"Du?" Tim konnte sich Jeff so einfach nicht vorstellen. Er war so offen und mitteilsam.

"Ja, ich. Ich brauchte einen Freund, der mich erkennen ließ, dass ich nicht wegen meiner Nase oder meinen Ohren allein war. Ich war allein, weil ich nie lachte und kein Interesse an anderen Menschen zeigte. Ich machte mir so viele Gedanken um mich selbst, dass ich niemand anderem Aufmerksamkeit schenkte. Deshalb habe ich mich zu dir gesetzt. Damit du weißt, dass dich jemand beachtet. Jennifer wusste das bereits."

"Ja, sicher, sie weiß das sehr gut", sagte Tim und beobachtete, wie sich zwei Jungen darum rissen, neben ihr zu sitzen. Tim und Jeff lachten beide. Lachen tut wirklich gut, und ich habe in letzter Zeit eine ganze Menge gelacht, kam es Tim in den Sinn.

Dann schaute Tim Jeff an. Schaute ihn wirklich an. Er sieht gar nicht so schlecht aus, dachte Tim. Ja, sicher, nicht schön oder so. Aber er ist nicht unscheinbar. Jeff ist mein Freund. Tim merkte, dass er Jeff nun zum ersten Mal sah. Vor Monaten hatte er nur eine komische Nase und "Jumbo"-Ohren gesehen. Nun sah er Jeff, sah ihn wirklich.
Marie P. McDugal

Aus: "Hühnersuppe für die Seele - Für Kinder"
Jack Canfield / Mark Victor Hansen

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