Donnerstag, 28. Oktober 2010

Der alte Zigeuner

Es war eine schmucke, saubere und ordentliche kleine Stadt. Das Leben der Bewohner verlief in geregelten Bahnen, die nur selten durch eine unliebsame Störung unterbrochen wurden. Und alle in der Stadt waren bemüht, diese so beruhigende Ordnung auf keinen Fall zu gefährden oder in Frage zu stellen.
In jedem Sommer ließen sich Zigeuner für ein paar Tage am Rand dieser kleinen Stadt nieder. Da sie sich in den normalen Gang der Dinge einfügten und keine Unordnung brachten, wurden sie zwar meist argwöhnisch beäugt, aber immerhin geduldet. Die Frauen kauften bei ihnen Stoffe und Korbwaren und besuchten heimlich, ohne dass es ihre Männer wussten, die alte Zigeunerin mit der Kristallkugel und den Tarotkarten. Die Männer bewunderten mancherlei Vorführungen und Kunststücke und besuchten heimlich, ohne dass es ihre Frauen wussten, ebenfalls die alte Wahrsagerin. Und die Kinder strichen neugierig und aufgeregt um die Wagen der Zigeuner herum. Hier roch es nach Abenteuer und Fernweh - und vor allem kam nach ein paar Tagen immer der alte Roman aus seinem Wagen, von den Kindern sehnsüchtig erwartet.
Roman war ein alter Zigeuner mit wildem Haar, noch wilderen Augen und einem imposanten Schnurrbart. Er redete im allgemeinen wenig, doch wenn er zu erzählen begann, dann war es, als entführte er seine Zuhörer zu atemberaubenden Abenteuern in ferne Länder - nicht selten waren sie in den Herzen der Zuhörer, mehr als ihnen vielleicht bewusst war. Unmerklich wurden die Kinder durch Romans spannende Geschichten reicher und erfahrener. Deshalb waren es wohl auch nicht nur seine Erzählungen, von denen sie sich so sehr angezogen fühlten, sondern auch eine seltsame, scheue und doch innige Liebe zu diesem alten Zigeuner.
Mit den Jahren merkten das auch die Eltern. Doch war es ihnen nie notwendig erschienen, dem allzu viel Bedeutung beizumessen. Mit der Zeit spürten sie aber, dass da noch mehr war und in ihren Kindern Gedanken reiften, die manches von der Ordnung in ihrer Stadt stören könnten. So besprachen sie eines Tages, ob sie ihren Kindern die Besuche bei Roman verbieten sollten. Allerdings wussten sie auch, dass Kinder Verbotenes eben heimlich tun. Die andere Möglichkeit wäre, das fahrende Volk von ihrer Stadt fernzuhalten. Sie wussten jedoch nicht, wie sie das den Zigeunern erklären sollten. Irgendeine an den Haaren herbeigezogene Begründung sollte dafür nicht herhalten, denn Anstand und Ehrlichkeit galten viel in dieser Stadt.
Der Rat der Stadt wurde deshalb gebeten, sich etwas einfallen zu lassen. Und die Ältesten fanden, es sei ratsam, Roman einfach die Probleme vorzutragen und zu fragen, ob es denn nicht möglich wäre, den Kindern keine Geschichten mehr zu erzählen.
Drei Ratsmitglieder sprachen deshalb eines Tages gemeinsam bei Roman vor und baten höflich um Gehör. Der erste trat vor und sagte: "Ohne Euch, verehrter Roman, zu nahe treten zu wollen, so wäre es uns doch recht, wenn Ihr und Eure Freunde für ein paar Jahre an unserer Stadt vorbeiziehen könntet. Ihr wisst, wir sind jedem Besucher gegenüber aufgeschlossen, aber manchmal gibt es eben Dinge, die einen zwingen, Besucher, wenn auch ungern, so doch abzuweisen. Ihr versteht, was ich meine?"
Roman nickte und schwieg eine Weile. Dann begann er: "Bei uns Zigeunern gibt es eine Geschichte, mit welcher ich Euch antworten möchte, hohe Herren. Mag sein, dass es so war, mag sein, dass es nicht so war: Eine Frau hatte in der Nacht geträumt, dass der liebe Gott sie gerne besuchen möchte. Sie freute sich und begann gleich am frühen Morgen, ihre Wohnung schön herzurichten, kochte schmackhafte Speisen und bereitete leckere Kuchen. Natürlich zog sie ihr schönstes Gewand an, um Gott zu gefallen. Als alles soweit fertig war, klopfte es an ihrer Türe. Aufgeregt öffnete sie, aber es war nur ein armer Bettler, der um eine milde Gabe bat. 'Guter Mann', sagte sie zu ihm, 'ich erwarte hohen Besuch und kann dich wirklich nicht brauchen. Bitte lass mich in Ruhe'. Wenig später klopfte es wieder. Und dieses Mal stand ein Zigeuner vor der Tür, der etwas verkaufen wollte. Auch ihn wies die junge Frau ab. Schließlich klopfte es ein drittes Mal, und es war ein Ratsherr, der etwas Wichtiges mit ihr besprechen wollte. Da sagte die Frau: ; Ich bin wirklich aufgeschlossen für jeden Besucher und ganz besonders für die Ratsherren unserer Stadt. Aber es gibt manchmal Umstände, die einem zwingen, auch einmal einen Besucher abzuweisen. Heute ist bei mir ein solcher Fall, bitte habt dafür Verständnis und lasst mich in Ruhe'. So wartete sie weiter auf ihren hohen Besuch, bis es Nacht wurde und Gott noch immer nicht gekommen war. Schließlich schlief sie enttäuscht ein und träumte wieder: 'Drei Mal habe ich heute bei dir angeklopft', sagte Gott im Traum zu ihr, 'und drei Mal hast du mich abgewiesen.' Und deshalb, Ihr hohen Herren, gibt es bei dem fahrenden Volk den Grundsatz, keinen Besucher abzuweisen, denn niemand kann wissen, ob es nicht sogar der liebe Gott selber ist."
Der erste Ratsherr dankte höflich für die Antwort und trat nachdenklich zurück. Der zweite begann nun: "Verehrter Roman, Eure Geschichte wird uns zu denken geben, doch es gibt noch andere Dinge, die uns zu dieser Vorsprache zwingen. Ihr wisst ja, dass wir eine christliche Stadt sind. Nun pflegt Ihr unseren Kindern Geschichten zu erzählen, die manchmal etwas unchristlich erscheinen. Auch deshalb wäre es angebracht, unsere Kinder für ein paar Jahre vor diesen Geschichten zu bewahren, meint Ihr nicht auch?"
Wieder nickte Roman und wieder sagte er, dass er mit einer Geschichte antworten wolle: "Mag sein, dass es so war, mag sein, dass es nicht so war, auf jeden Fall ist es noch gar nicht lange her, da besuchte Gottes Sohn wieder einmal die Erde, um zu sehen, wie es sich heute unter christlichen Menschen lebt. Er war angetan davon, dass in jeder Stadt wenigstens ein Gotteshaus stand, in welchem Gemälde und Standbilder davon zeugten, wie sehr man ihn verehrte. Frohen Mutes wandte er sich an die Menschen, um mit ihnen zu sprechen und ihnen zu predigen. Da geschah etwas Seltsames: Immer wenn er seinen Namen nannte. wandten sich die Menschen von ihm ab, tippten sich an die Stirn oder lachten ihn aus. Jesus wunderte sich sehr und begriff das alles nicht. Dennoch begann er auf großen Plätzen zu predigen. Doch da erging es ihm ähnlich. Manches Mal wurde er beschimpft oder gar bedroht, nannte man ihn einen Herumtreiber, der sich erst einmal waschen und die Haare schneiden solle. Hier führe man ein ordentliches und christliches Leben und könne Leute wie ihn nicht brauchen. Er war vollkommen verwirrt, weil er doch genau so aussah, wie er überall dargestellt wurde. Er verstand nicht, was auf einmal an seinem Äußeren auszusetzen war. In seiner Ratlosigkeit wandte er sich an einen Geistlichen und bat für das alles um eine Erklärung. Dieser hörte ihm wenigstens geduldig zu, lud ihn ein, bei ihm zu verweilen, gab ihm zu essen und zu trinken. Doch schon nach kurzer Zeit kamen einige weiß gekleidete Männer in das Haus des Priesters und nahmen Jesus mit, angeblich um ihm zu helfen. Doch sie sperrten ihn in ein großes Haus für Menschen, die an Geist und Seele krank waren. Also beschloss er, ein paar Wunder zu tun und einige der Kranken zu heilen. Noch ehe er damit beginnen konnte, wurde er gefesselt und mit eigenartigen Spritzen traktiert, bis er sich nicht mehr gegen den Schlaf wehren konnte. Da beschloss er verwirrt und enttäuscht, die Erde wieder zu verlassen und darüber nachzudenken, was die Menschen mit ihrem Christentum wirklich meinen. Mit seinen Lehren hatte das alles ja wirklich nichts zu tun. Und deshalb", so schloss Roman, "gibt es bei uns Zigeunern den Spruch, dass nur der sich christlich nennen solle, der auch wirklich im Sinne von Gottes Sohn lebt und handelt."
Betroffen trat der zweite Ratsherr zurück und vergaß sogar, sich zu bedanken. Doch nun kam der dritte an die Reihe und sagte mit fast schüchterner Stimme: "Im Grunde, lieber Roman, geht es uns nur darum, dass wir befürchten, Ihr könntet mit Euren Geschichten unsere Kinder verderben und ihre Erziehung stören, wenn Ihr versteht, was ich meine. Könntet Ihr nicht doch unsere Stadt meiden, wenigsten für ein paar Jahre?"
Diese Mal lachte Roman und sagte: "Wisst Ihr, hohe Herren, dazu fällt nicht einmal mir eine Geschichte ein. Ich will Euch einmal etwas sagen: Es stimmt, ich erzähle Euren Kindern viele seltsame Geschichten, so wie auch Ihr zwei Geschichten gehört habt. Aber diese Geschichten verderben nicht, sonder sie heilen. Wenn ich mit Euren Kindern beisammensitze, dann erzähle nicht nur ich, sondern sehr oft höre ich den Geschichten Eurer Kinder zu, wenn sie nach ein paar Märchen selbst zu reden anfangen. Und das solltet auch Ihr einmal tun: Hört nur einen Tag lang Euren Kindern aufmerksam zu! Ihr alle erzieht Eure Kinder zwar dazu, ständig auf Euch zu hören, Euch im wahrsten Sinne des Wortes zu gehorchen, doch Ihr habt keine Ohren mehr für sie. Wenn Ihr das einmal versucht und dann noch immer der Meinung seid, dass meine Geschichten Eure Kinder verderben, dann will ich nie wieder in Eure schöne Stadt kommen, so wahr ich Roman heiße!"
Ob man es nun glaubt oder nicht, damals waren Ratsherren wirklich noch Menschen, die anderen aufmerksam zuhörten und deren Argumente bedachten. So dankten die drei aufrichtig, kehrten nachdenklich in die Stadt zurück und berichteten von ihrem Gespräch mit dem alten Zigeuner.
Am nächsten Tag waren die Zigeuner und mit ihnen der alte Roman verschwunden. Die Kinder waren enttäuscht und verwundert, weil die Zigeuner sonst immer länger dageblieben waren. Aber sie trösteten sich bald damit, dass der nächste Sommer auch wieder die Zigeuner und Roman zu ihnen bringen würde.
Ein Jahr später waren sie wirklich wieder da, auch die Wahrsagerin und der alte Roman. Als dieser zum ersten Male aus seinem Wagen trat, bemerkte er mitten unter den Kindern die drei Ratsherren, mit denen er vor einem Jahr gesprochen hatte. Und es waren auch noch ein paar andere Erwachsene da. Zuerst wusste Roman nicht so recht, was er nun davon halten sollte. Doch dann sah er die frohen und erwartungsvollen Gesichter der Kinder und die etwas unsicheren, aber gespannten Augen der Erwachsenen. Da lächelte er auf einmal still vor sich hin und begrüßte sie alle mit dem Anfang einer ganz neuen Geschichte: "Es mag sein, dass es so war, es mag sein, dass es nicht so war, wer weiß das schon, doch eines Tages ..."
Heinz Körner


Aus: "Wieviele Farben hat die Sehnsucht - Ein Märchenbuch"
lucy körner verlag

Diese sehr weise Geschichte begleitet mich, seit ich sie das erste Mal gelesen habe, und hat mir seither, aus vielen scheinbar ausweglosen Situationen, den Weg gewiesen.

1 Kommentar:

  1. Liebe Margitta,

    wieder eine sehr schöne und lesenswerte Geschichte. Eigentlich müsste man sogar das Adjektiv "lehrreich" verwenden, doch leider gehört dazu auch der oder die "Abnehmer/in", der/die sich der darin enthaltenen Weisheit und Wahrheit zu öffnen bereit ist.

    Zum Glück gibt es noch Menschen, die solche Geschenke zumindest lesender Weise anzunehmen bereit sind und wohl auch zu schätzen wissen. Schön wäre nur, wenn sie dann eben nicht nur lesen und weiter ihres Lebensweges ziehen, sondern auch hin und wieder den in Worte gefassten Beweis zurücklassen würden, dass die Botschaft der Geschichte auch verstanden wurde.

    Dass wir einander und die Botschaft verstehen, ist mir aber Trost und "Ansporn" genug, dieses Wissen in meinem Leben anzuwenden, wann immer es sich als notwendig und sinnvoll erweist!

    Vielen Dank für die Veröffentlichung, in den wie immer auch der Schöpfer des Werkes einbezogen ist!

    Liebe Grüße und noch einen schönen Sonntag ... bis zur nächsten Lesestunde ;-)

    Adalbert

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