Samstag, 17. April 2010

Dem anderen Mut machen

Das ist Mut ... unerschütterlich das zu ertragen, was das Schicksal bringt.
Euripides


Mark war fast elf Jahre, ein schmächtiger Junge mit hängenden Schultern, als er Mojo zusammen mit seiner Mutter in die Tierklinik brachte, in der ich arbeitete. Die ausgebeulte Kleidung ließ seine Gestalt noch kleiner erscheinen als sie war, und unter einer abgewetzten Baseballmütze schauten aufgeweckte blaue Augen hervor. Es war klar, dass wir zuerst Marks Vertrauen gewinnen mussten, bevor wir irgendetwas für seinen Hund tun konnten. Mojo war zu diesem Zeitpunkt fast neun und damit ziemlich betagt für einen schwarzen Labrador, jedoch nicht zu alt, um noch Freude am Leben haben zu können. Dennoch sah es im Moment aus, als habe Mojo all seinen Schwung verloren.

Mark hörte aufmerksam zu, als der Tierarzt seinen Hund untersuchte. Er beantwortete Fragen und stellte selbst welche, während er die ganze Zeit über nervös eine blonde Haarsträhne, die aus seiner Mütze hing, aus dem Gesicht wischte. "Mojo wird wieder gesund, nicht war?", brach es aus ihm heraus, als der Arzt gerade gehen wollte. Es gab keine Garantien, aber wenn die Blutuntersuchung erst einmal abgeschlossen war, würde der Arzt genauere Aussagen über Mojos Zustand treffen können. Mojo war an Leber und Nieren erkrankt, und zwar im fortgeschrittenen und letztlich tödlichen Stadium. Mit guter Fürsorge würde er noch eine Weile lang schmerzfrei leben können, aber er würde eine besondere Diät einhalten, Medikamente nehmen und regelmäßig zu Untersuchungen kommen müssen. Der Doktor und ich wussten aus Erfahrung, dass die finanzielle Seite immer ein großes Problem darstellte, aber in dem Moment, als Euthanasie ins Gespräch kam, unterbrach uns Marks Mutter mit den Worten, "Wir lassen Mojo nicht einschläfern." Sie zahlte sofort die Rechnung und Mutter und Sohn führten ihren alten Hund behutsam nach draußen zum Auto, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Wir hörten mehrere Wochen lang nichts von ihnen, aber dann waren sie eines Tages wieder da. Sie sagten, Mojo sei krank gewesen. Er hatte viel Gewicht verloren und wirkte völlig teilnahmslos. Als ich Mojo nach hinten in den Behandlungsraum führte, blockierte plötzlich Marks kleiner Körper den Weg.

"Ich muss mit ihm gehen - er braucht mich", sagte der Junge mit fester Stimme.

Ich wusste nicht, wie Mark all die Nadeln und all das Blut verkraften würde, aber ansonsten sprach nichts dagegen, dass er mit nach hinten kam. Zu meiner Überraschung verhielt sich Mark so, als hätte er alles schon hundertmal vorher gesehen.

"Oh, du bist so ein tapferer alter Junge, Mojo", flüsterte Mark, als der Katheter in Mojos Vene eindrang. Selten zuvor hatten wir einen ähnlich kooperativen Patienten. In unbequemen Situationen bewegte er nur ein wenig seinen Kopf, so als ob er uns daran erinnern wollte, dass er noch da war. Die kleine weiße Hand, die ohne Unterlass tröstend über seine grauhaarige Kehle strich, schien ihm Kraft zu geben.

Dieses Szenario sollte sich in Zukunft noch oft wiederholen. Wir stabilisierten Mojos Gesundheit einigermaßen, schickten ihn nach Hause, er wurde erneut krank, und Mutter und Sohn brachten ihn wieder zu uns. Und wie auch immer wir Mojo behandelten, Mark war ständig anwesend, er stellte Fragen und ermahnte uns, vorsichtig zu sein. Vor allem aber ermutigte er seinen alten Freund und sorgte dafür, dass es ihm so gut wie möglich ging.

Ich machte mir manchmal Sorgen, ob es Mark nicht überforderte, alles mit ansehen zu müssen, aber jede Andeutung, ob er nicht lieber draußen warten wolle, wurde rundweg abgelehnt. Mojo brauche ihn.

Eines Tages sprach ich Marks Mutter an, während ihr Sohn gerade in einem anderen Zimmer war. "Sie wissen, dass sich Mojos Zustand zunehmend verschlechtert. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie lange Sie die Behandlung noch fortsetzen wollen? Das Ganze scheint an Mark nicht spurlos vorüberzugehen."
Marks Mutter hielt einen Moment inne. Dann blickte sie mich an und sprach mit fester, entschlossener Stimme: "Mojo ist schon bei uns, seit Mark noch ein Baby war. Sie sind zusammen aufgewachsen und Mark liebt ihn jenseits aller Vernunft. Aber das ist noch nicht alles."

Sie atmete tief durch und schaute für einen kurzen Moment weg. "Vor zwei Jahren wurde bei Mark Leukämie festgestellt. Er hat gegen diese Krankheit gekämpft und gute Chancen, wieder vollständig gesund zu werden. Er spricht jedoch niemals darüber. Er lässt die Tests und Behandlungen über sich ergehen, als seien sie nicht real und geschähen einem anderen. Was Mojo angeht, so kann er Fragen stellen, und das ist wichtig für Mark. Wir werden daher so lange um Mojo kämpfen, wie er es will."

Die nächsten paar Wochen sahen wir das kleine Trio ziemlich häufig. Marks abrupte Fragen und Beobachtungen, die uns früher eher gestört hatten, bekamen nun eine neue Bedeutung, und wir erklärten ihm ausführlich jede Handlung schon während wir sie ausführten. Wir fragten uns, wie lange Mojo noch so weitermachen konnte. Ein geduldigerer und gutwilligerer Patient war nur schwer vorstellbar, aber der Labrador war inzwischen schrecklich dünn und schwach. Alle Mitarbeiter der Klinik machten sich große Sorgen, ob Mark das Unausweichliche wohl verkraften würde.

Irgendwann kam der Tag, an dem Mojo vor dem geplanten Behandlungstermin zusammenbrach. Es war ein Samstag, an dem sie ihn eilig hereinbrachten. Der Warteraum war überfüllt und so trugen wir Mojo ins Hinterzimmer und legten ihn auf ein paar dicke Decken, während Mark wie immer an seiner Seite blieb. Ich verließ das Zimmer, um einige Dinge zu holen, und als ich ein paar Minuten später zurückkam, stand Mark weinend am Fenster, die Fäuste in den Achselhöhlen vergraben. Ich wollte ihn nicht stören und so schlich ich lautlos aus dem Zimmer. Bis jetzt war er so tapfer gewesen. Als ich später mit seiner Mutter zurückkehrte, kniete er ausgeheult an Mojos Seite. Seine Mutter setzte sich neben ihn und legte ihren Arm um seine Schulter. "Na, wie geht es euch", fragte sie mit sanfter Stimme.

Mark überhörte ihre Frage und sagte: "Mom, Mojo stirbt, nicht wahr?"

"Oh, Liebling ...", ihre Stimme stockte und Mark sprach weiter, so als hätte sie ihm nicht geantwortet.

"Ich meine, all die Säfte und Pillen, helfen sie überhaupt noch?" Er schaute uns an, als wolle er von uns eine Bestätigung seiner Zweifel. "Wenn nicht", er schluckte schwer, "dann sollten wir ihn einschläfern."

Natürlich blieb Mark bei Mojo bis zum Ende. Er stellte Fragen, um sich selbst zu beruhigen, ob es auch wirklich das Beste für Mojo sei und sein Hund auch wirklich keine Schmerzen oder Angst dabei habe. Immer wieder strich er über Mojos Kopf, bis dieser schließlich zum letzten Mal in seinen Schoß fiel. Als Mark fühlte, wie Mojos letzter Atemzug den dünnen Rippen entwich, und als er sah, wie die gütigen braunen Augen seines geliebten Hundes verblassten, schien er alles um sich herum zu vergessen. Er weinte ohne Zurückhaltung und beugte sich über Mojos leblosen Körper, während er langsam seine Mütze abnahm. Erschrocken erblickte ich die Auswirkungen der Chemotherapie, im krassen Gegensatz zu seinem jugendlichen Gesicht. Wir überließen ihn seinem Kummer.

Mark hatte uns nie etwas von seiner eigenen Krankheit oder seinen eigenen Gefühlen auf Mojos Leidensweg erzählt, aber als seine Mutter einige Monate später anrief, weil sie ein paar Fragen zu einem Welpen hatte, den sie kaufen wollte, fragte ich sie, wie es ihm ginge.

"Wissen Sie", sagte sie daraufhin, "es war eine schreckliche Zeit für ihn, aber seit Mojos Tod hat Mark angefangen, über seinen eigenen Zustand zu sprechen. Er stellt Fragen und versucht mehr über seine eigene Situation in Erfahrung zu bringen. Ich glaube, Mark hat dadurch, dass er sich so sehr um den todkranken Mojo gekümmert hat, viel Kraft und Mut gewonnen, um für sich selbst kämpfen und seinem eigenen Leid ins Auge sehen zu können."

Ich hatte immer geglaubt, Mark sei wegen Mojo tapfer gewesen. Aber wenn ich mich an die ruhigen, vertrauensvollen Augen und den freundlich wedelnden Schwanz erinnere, der sich immer hin und her bewegte, egal wie schlecht es dem Hund ging, habe ich eher den Eindruck, dass Mojo wegen Mark tapfer gewesen ist.
Roxanne Willems Snopek Raht

Aus: "Hühnersuppe für die Seele - für Tierfreunde"
Jack Canfield / Mark Victor Hansen

3 Kommentare:

  1. Eine sehr schöne und intensive Geschichte. Danke!

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  2. Ja, lieber G. G. Du hast recht. Sie berührt mich jedesmal wieder.

    Liebe Grüße
    Margitta

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  3. Ich glaube, unsere Hunde wissen(fühlen) mehr über uns, als wir über sie.

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