Samstag, 9. Januar 2010

Der blinde junge Mann

Wachstum bedeutet Veränderung und Veränderung beinhaltet Risiken - der Schritt vom Bekannten ins Unbekannte.
George Shinn

Busse, Züge, Flugzeuge und Flughäfen sind ein sicherer Ort für Fremde, um sich intime Geschichten zu erzählen, weil sie wissen, dass sie einander wahrscheinlich nie wieder sehen werden. So war es auch im Frühjahr 1983 auf dem New Yorker Flughafen La Guardia. Ich wartete auf meinen Flug, als ein großer, kräftig gebauter und gepflegt gekleideter Mann sich in seiner Anonymität sicher genug fühlte, um sich neben mich zu setzen und mir die folgende Geschichte zu erzählen:
"Ich war gerade dabei, mein Büro in Manhattan für den Feierabend aufzuräumen. Meine Sekretärin war schon vor einer halben Stunde gegangen, und ich hatte eben meine Sachen geordnet, als das Telefon klingelte. Es war Ruth, meine Sekretärin. Sie war ganz aufgeregt. 'Ich habe einen wichtigen Umschlag auf meinem Schreibtisch liegen lassen. Er muss sofort zum Blindeninstitut gebracht werden. Es ist nur wenige Häuserblocks entfernt. Wären Sie so nett, ihn dort vorbeizubringen?'
'Da haben Sie Glück, dass Sie mich noch erwischen, ich wollte gerade das Büro verlassen. Ja, ich kann Ihren Umschlag gerne dort vorbeibringen.'
Als ich im Blindeninstitut eintraf, kam mir ein Mann entgegen. 'Gott sei Dank sind sie da. Wir müssen sofort anfangen.' Er bot mir einen freien Stuhl an und bat mich, Platz zu nehmen. Bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, saß ich in einer Reihe von Menschen, die alle sehen konnten. Uns gegenüber saßen blinde Männer und Frauen. Ein junger Mann, ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt, stand an einem Ende des Raums und gab Anweisungen.
'Ich werde jetzt gleich diejenigen von Ihnen, die nicht sehen können, bitten, die Person, die Ihnen gegenübersitzt, kennen zu lernen. Nehmen Sie sich ruhig genügend Zeit, um die Gesichtszüge, die Frisur, die körperliche Statur, die Atemfrequenz und so weiter zu studieren. Wenn ich ein Zeichen gebe, werden Sie Ihren Arm ausstrecken und den Kopf der Person berühren, die Beschaffenheit ihres Haares fühlen und feststellen, ob es lockig ist oder glatt, dick oder dünn. Stellen Sie sich vor, welche Farbe es hat. Berühren Sie dann mit den Fingerspitzen die Stirn. Fühlen Sie die Beschaffenheit der Haut. Benutzen Sie beide Hände, um die Augenbrauen zu erkunden, dann die Augen, die Nase, die Wangen, die Lippen, das Kinn und den Nacken. Hören Sie, wie die Person atmet. Ist der Atem ruhig oder schnell? Können Sie den Herzschlag hören? Schlägt das Herz schnell oder langsam? Lassen Sie sich ruhig Zeit. Bitte fangen Sie jetzt an.'
Ich bekam auf einmal panische Angst und wollte sofort weg. Niemand darf mich anfassen ohne meine ausdrückliche Erlaubnis, schon gar nicht ein Mann. Mein Gegenüber fing an, mein Haar zu berühren. Mein Gott, wie unwohl ich mich fühlte! Nun berührten seine Hände mein Gesicht, ich fing an zu schwitzen. Er würde gleich meinen Herzschlag hören und merken, dass ich in Panik war. Ich musste mich beruhigen, durfte mir nicht anmerken lassen, dass ich mich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Als die Übung vorbei war, atmete ich erleichtert aus.
'Und nun', fuhr der junge Mann fort, 'haben auch die Sehenden die Möglichkeit, die Person zu ertasten die ihnen gegenüber sitzt. Schließen Sie die Augen, und stellen Sie sich vor, dass Sie diese Person noch nie in Ihrem Leben gesehen haben. Was würden Sie über diese Person erfahren wollen? Wer ist sie? Was sind ihre Gedanken? Welche Träume mag sie haben? Strecken Sie ihren Arm aus, und berühren Sie den Kopf Ihres Gegenübers. Fühlen Sie die Beschaffenheit des Haares. Welche Farbe mag das Haar wohl haben?'
Seine Stimme verhallte im Hintergrund. Bevor ich realisierte, was ich tat, lag meine Hand auf dem Gesicht des jungen Mannes, der mir gegenübersaß. Sein Haar war trocken und dicht. Mir fiel die Farbe seines Haares nicht mehr ein. Verdammt, ich konnte mich nie an die Haarfarbe von irgendjemandem erinnern.
Im rechten Licht betrachtet, schaute ich niemals irgendeinen Menschen wirklich an. Ich sagte Menschen immer nur, was sie tun sollten. Ansonsten konnte ich auf ihre Anwesenheit gut verzichten. Ich habe mich niemals wirklich um sie geschert. Mein Beruf war wichtig, und mich interessierten eigentlich nur die Geschäfte, die ich machte. Andere Menschen zu berühren, zu fühlen und kennen zu lernen war nicht mein Ding und würde es auch bestimmt niemals sein.
Ich fuhr unterdessen damit fort, die Augenbrauen, die Nase, die Wangen und die Haut des jungen Mannes zu fühlen. Ich merkte, dass ich innerlich weinte. Da war ein Gefühl der Zärtlichkeit in meinem Herzen, das ich bislang nicht gekannt hatte, eine Verletzlichkeit, die ich weder mir selbst noch einem anderen Menschen jemals offenbart hatte. Ich spürte sie und hatte Angst. Mir war klar, dass ich hier nicht lange bleiben konnte. Gleich würde ich weggehen und nie mehr zurückkommen.
Träume? Hat dieser junge Mann vor mir Träume? Was gehen sie mich an? Er bedeutet mir nichts. Ich habe zwei Kinder im Teenager-Alter und kenne noch nicht einmal ihre Träume. Außerdem haben sie nur Autos, Sport und Mädchen im Kopf. Wir reden nicht viel miteinander, und ich glaube nicht, dass sie mich sonderlich mögen. Ich weiß nicht, ob ich sie überhaupt verstehe. Meine Frau? Nun, sie macht ihr Ding, und ich mache meins.
Ich schwitzte, und mein Atem ging schwer. Der Übungsleiter bat uns, zum Ende zu kommen. Ich nahm meine Hand herunter und setzte mich zurück. 'Nun kommen wir zum letzten Teil der Übung'. hörte ich ihn sagen. 'Sie haben jetzt drei Minuten Zeit, um sich mit ihrem Gegenüber über ihre Erfahrung beim Versuch, den anderen kennen zu lernen, auszutauschen. Teilen Sie Ihrem Partner mit, was Sie denken und fühlen. Erzählen Sie, was Sie von ihm oder ihr gelernt haben. Die blinde Person fängt bitte an.'
Der Name meines Übungspartners war Henry. Zuerst erzählte er mir, dass er schon dachte, keinen Partner für den Abend zu haben, und wie froh er sei, dass ich es noch rechtzeitig geschafft habe. Er meinte, er habe fühlen können, dass ich wirklich den Mut besitze, meine Gefühle und Emotionen offen zu legen. 'Ich war beeindruckt', sagte er, 'dass Sie die Anleitungen ausführten, obwohl Sie einen ziemlichen Widerwillen dagegen hatten, Ihr Herz ist sehr groß, aber auch sehr einsam. Sie möchten mehr Liebe in Ihrem Leben, wissen aber nicht, wie Sie darum bitten können. Ich bewundere Ihre Bereitschaft, die Seite in sich zu entdecken, die sich nach einer Veränderung sehnt. Ich weiß, dass Sie am liebsten aus dem Raum gerannt wären, aber Sie haben es nicht getan, sondern sind geblieben. Ich habe mich beim ersten Mal auch so gefühlt. Inzwischen habe ich aber keine Angst mehr vor dem, der ich wirklich bin. Es ist okay für mich zu weinen, Angst zu haben, Panik zu kriegen, wegrennen zu wollen, sich von anderen abzukapseln, sich in die Arbeit zu verkriechen. Das sind alles ganz normale Empfindungen, und ich lerne sie immer mehr zu akzeptieren und zu schätzen. Vielleicht haben Sie ja Lust öfter hierher zu kommen und herauszufinden, wer Sie wirklich sind.'
Ich schaute dem jungen, blinden Henry in die Augen und begann zu schluchzen. Ich brachte sonst keinen Ton heraus, es gab auch nichts zu sagen. Ich war noch nie in meinem ganzen Leben an solch einem Ort gewesen. Ich hatte niemals zuvor solch eine bedingungslose Liebe und Weisheit erfahren. Die einzigen Worte, die ich meiner Erinnerung nach zu Henry sagte, waren: 'Ihr Haar ist braun, und Ihre Augen strahlen.' Er war wahrscheinlich die erste Person in meinem Leben, deren Augen ich niemals vergessen werde. Ich war der Blinde, und Henry hatte die Vision zu sehen, wer er war.
Die Übung war zu Ende, und alle Anwesenden erhoben sich. Ich zog den Umschlag aus meiner Tasche und überreichte ihn dem Übungsleiter. 'Meine Sekretärin wollte ihn eigentlich schon früher vorbeibringen. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen den Umschlag erst jetzt geben kann.'
Der junge Mann nahm den Umschlag und lächelte. 'Es war meine erster Übungsabend dieser Art. Ich habe auf die Unterlagen gewartet, um zu wissen, was ich tun sollte. Als Sie nicht rechtzeitig kamen, musste ich eben auf meinen inneren Souffleur hören. Ich habe gar nicht bemerkt, dass Sie nicht einer der regulären Freiwilligen waren. Entschuldigen Sie bitte alle Unannehmlichkeiten.'
Ich habe niemandem davon erzählt, nicht einmal meiner Sekretärin, dass ich jetzt an zwei Abenden in der Woche ins Blindeninstitut gehe. Ich kann es nicht in Worte fassen, aber es fühlt sich so an, als ob ich anfangen würde, Liebe für andere Menschen zu empfinden. Bitte erzählen Sie niemandem in der Wall Street, was ich eben zu Ihnen gesagt habe. Wissen Sie, dies ist eine Welt, in der der eine den anderen frisst, und ich möchte gern die Kontrolle behalten. Aber will ich das wirklich? Es scheint, als wären mir meine Antworten abhanden gekommen.
Ich weiß, dass ich noch viel lernen muss, wenn ich will, dass mich meine Söhne respektieren. Es ist schon komisch, früher hätte ich so etwas nie gesagt. Es war klar, dass Kinder ihre Eltern respektieren müssen, zumindest hat man mir das so beigebracht. Vielleicht aber müssen beiden Seiten etwas tun, und wir können gemeinsam lernen, uns gegenseitig zu respektieren. Als Erstes habe ich angefangen, mich selbst anzunehmen und zu lieben."

Helice Bridges

Aus: "Noch mehr Hühnersüppchen für die Seele" von Jack Canfield und Mark Victor Hansen

1 Kommentar:

  1. Liebe Margitta,
    da liegt schon wieder eine predigende Verschwiemelung vor.
    Die Erzählerin macht sich ihre selektive Wahrnehmung zum Vorwurf und möchte am liebsten alle Welt mit Liebe umfangen lernen.
    Vielleicht hilft ihr folgende Überlegung aus dem Kuddelmuddel: Wahrnehmung ist immer selektiv. Sonst könnte kein Mensch Auto fahren.Davor rettet einen auch nicht die Liebe. Wozu auch?
    Umgekehrt:
    "Wenn ich dich liebe, was geht es dich an?"
    Aber bitte nicht gerade in der Hauptverkehrszeit an der zentralen Kreuzung.
    Das gibt Blechschäden!

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