Samstag, 30. Januar 2010

Zum Lesen, wenn du allein bist

Ich war dreizehn Jahre alt. Meine Familie war vor einem Jahr von Nordflorida nach Südkalifornien umgezogen. Ich knallte mit Macht in die Adoleszenz. Ich war zornig und rebellisch und nahm kaum Rücksicht auf das, was meine Eltern zu sagen hatten, besonders, wenn es mit mir zusammenhing. Wie so viele Teenager mühte ich mich ab, allem auszuweichen, was nicht mit meinem Bild von der Welt übereinstimmte. Als Kind, das "glänzend ohne Führung zurechtkommt", lehnte ich jedes offene Liebesangebot ab. Tatsächlich wurde ich bei der bloßen Erwähnung des Wortes "Liebe" zornig.

Eines Abends stürmte ich nach einem besonders schwierigen Tag in mein Zimmer, verschloss die Tür und ging ins Bett. Als ich mich hinlegte, glitten meine Hände unter das Kopfkissen. Da war ein Briefumschlag. Ich zog ihn heraus. Und auf dem Umschlag stand: "Zum Lesen, wenn die allein bist."

Da ich allein war, würde niemand erfahren, ob ich das nun las oder nicht, also öffnete ich den Brief. Er lautete: "Mike, das Leben ist im Moment schwer. Ich weiß, dass du frustriert bist und ich weiß, dass wir nicht alles richtig machen. Außerdem weiß ich, dass ich dich rückhaltlos liebe, und nichts, was du tust oder sagst wird daran jemals etwas ändern. Ich bin für dich da, falls du jemals das Bedürfnis hast zu reden, und wenn nicht, ist das auch okay. Du sollst nur wissen, das ich dich immer lieb haben und stolz darauf sein werde, dass du mein Sohn bist, egal, wohin du gehst oder was du tust in deinem Leben. Ich bin für dich da und ich hab dich lieb - das wird sich nie ändern. Alles Liebe, Mami."

Das war der erste von mehreren mit "Zum Lesen, wenn du allein bist" betitelten Briefen. Wir redeten nie darüber.

Heute reise ich in der Welt herum, um Menschen zu helfen. Ich hielt in Sarasota, Florida, ein Seminar, als am Ende des Tages eine Dame an mich herantrat und mir von den Schwierigkeiten berichtete, die sie mit ihrem Sohn hatte. Wir spazierten zum Strand hinaus, und ich erzählte ihr von der unerschütterlichen Liebe meiner Mutter und den "Zum Lesen, wenn du allein bist" Briefen. Mehrere Wochen später erhielt ich ein Postkarte, auf der stand, dass sie ihren ersten Brief geschrieben und ihn für ihren Sohn hinterlassen hatte.

Als ich an diesem Abend zu Bett ging, legte ich die Hände unter mein Kissen und erinnerte mich an die Erleichterung, die ich jedes Mal empfand, wenn ich einen Brief bekam: Inmitten meiner turbulenten Teenagerjahre waren die Briefe die beruhigende Versicherung, dass man mich nicht wegen, sonder trotz meines Betragens oder Wesens lieben konnte. Unmittelbar vor dem Einschlafen dankte ich Gott, dass meine Mutter wusste, was ich, ein zorniger Teenager, dringend brauchte. Wenn heute die See des Lebens stürmisch wird, weiß ich: Unter meinem Kissen befindet sich diese beruhigende Versicherung, dass Liebe - unbeirrbare, beständige, bedingungslose Liebe - Leben verändern kann.


Mike Staver, aus: "Hühnersuppe für die Seele - für Mütter", Jack Canfield/Victor Hansen

Freitag, 29. Januar 2010

Bonmot

Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt, ist mein Schneider. Er nimmt jedesmal neu Maß, wenn er mich trifft, während alle anderen immer die alten Maßstäbe anlegen, in der Meinung, sie passten auch heute noch.
George Bernhard Show

Mittwoch, 27. Januar 2010

Wiegenlied (väterlicherseits)

Schlaf ein, mein Kind! Schlaf ein, mein Kind!
Man hält uns für Verwandte,
doch ob wir es auch wirklich sind?
Ich weiß es nicht. Schlaf ein, mein Kind!
Mama ist bei der Tante ...

Schlaf ein, mein Kind! Sei still! Schlaf ein!
Man kann nichts Klügres machen.
Ich bin so groß. Du bist so klein.
Wer schlafen kann, darf glücklich sein.
Wer schlafen darf, kann lachen.

Nachts liegt man neben einer Frau,
die sagt: Laß mich in Ruhe.
Sie liebt mich nicht. Sie ist so schlau.
Sie hext mir meine Haare grau.
Wer weiß, was ich noch tue.

Schlaf ein, mein Kind! Mein Kindchen, schlaf!
Du hast nichts zu versäumen.
Man träumt vielleicht, man wär ein Graf.
Man träumt vielleicht, die Frau wär brav.
Es ist so schön, zu träumen ...

Man schuftet, liebt und lebt und frißt
und kann sich nicht erklären,
wozu das alles nötig, ist!
Sie sagt, daß du mir ähnlich bist.
Mag sich zum Teufel scheren!

Der hat es gut, den man nicht weckt.
Wer tot ist, schläft am längsten.
Wer weiß, wo deine Mutter steckt!Sei ruhig.
Hab ich dich erschreckt?
Ich wollte dich nicht ängsten.

Vergiß den Mond! Schlaf ein, mein Kind!
Und laß die Sterne scheinen.
Vergiß auch mich! Vergiß den Wind!
Nun gute Nacht! Schlaf ein, mein Kind!
Und, bitte, laß das Weinen...

Erich Kästner

Montag, 25. Januar 2010

Zurück in die Sklaverei?

Fast könnte man das annehmen, wenn man folgende Zeilen liest:
****** Personaldienstleistungen GmbH
Gefahr von Arbeitsplatzverlust / drohende Arbeitslosigkeit

Sehr geehrter Mitarbeiter, sehr geehrte Mitarbeiterin,
leider müssen wir mit diesem Schreiben auf einen bedrohlichen und akuten Umstand hinweisen und dieser nennt sich: viel zu hoher Krankenstand bei der Firma Eupec Pipecoatings GmbH.
Was möchten wir Ihnen damit sagen?

Freitag, 22. Januar 2010

Sprechmittel

Personenvereinzelungsanlage: Drehkreuz
Raumübergreifendes Grün: Baum
Spontanvegetation: Unkraut
Biosensor: Spürhund
Rundumtonkombination: Blaulicht und Martinshorn
Restmüllbehältervolumenminderung: Bestellung einer kleineren Mülltonne

Vorstehende Begriffe entstammen Bürokratisch, der vorherrschenden Amtssprache in deutschen Amtsstuben.

Mittwoch, 20. Januar 2010

Danke, Thomas

Gestern hatte einer der ganz großen Stars seinen Auftritt in Punkto Mitleiderzeugung. Thomas Gottschalk darf natürlich nicht fehlen im Reigen der engagierten Bettelbrüder und -schwestern. Das Menü ist schnell angerichtet und die Zutaten lassen sich nicht lange bitten, der Speise die Würze zu geben. Hochkarätige Stars trällern schöne Liedchen. Siemens, Kaufland, Lidl und Co., erklären wortreich ihre und ihrer Belegschaft Betroffenheits-Besoffenheit und verkünden ordentliche Spendensummen. Mit permanenten Einblendungen von beliebten Stars am Telefon, vorzugsweise aus Film, Fernsehen und Sport, werden die Zuschauer vor der Glotze zum Spenden animiert. Und nicht zu vergessen, das Laufband am unteren Bildschirmrand, welches der Welt verkündet, wer wieviel gegeben hat - psychologische Manipulation von Anfang bis Ende.

Dieser Bertoffenheitsmaraton wird nur übertroffen durch das Kalkül der beteiligten Unternehmen und die teilnahmsvolle Sensationsgier der Publikums. Ein Schelm, wer Arges dabei denkt.

Samstag, 16. Januar 2010

Die Bank von ihrer besten Seite

"Große Gelegenheiten, anderen zu helfen, kommen nicht oft, aber kleine umgeben uns täglich."
Sally Koch

"Als mein Sohn ein Teenager war, setzten er und sein Freund sich in den Bus und fuhren quer durch die ganze Stadt, um neue Räder für ihre Skateboards zu kaufen. Sie hatten beide je zwanzig Dollar. Als sie mitten in der City waren, bemerkten sie, dass das Geld nicht mehr für die Rückfahrkarte reichte. Ihnen fehlten 3,75 Dollar.
Da eine Filiale unserer Hausbank in der Nähe war, entschlossen sie sich, dort Geld zu leihen. Die Frau am Schalter sagte ihnen, dass dies nicht möglich sei, aber mein Sohn könnte vielleicht einen Bargeldvorschuss auf die Kreditkarte seiner Eltern ausbezahlt bekommen. Die beiden Jungen riefen also bei uns zu Hause an, aber niemand ging ans Telefon. Sie fragten die Frau erneut, ob es nicht doch einen Weg gäbe, wie sie an das benötigte Geld kommen konnten, worauf diese sie zum stellvertretenden Geschäftsführer schickte. Als der sie fragte, warum die Bank ihnen Geld leihen sollte, antworteten sie: "Weil wir Pfadfinder und gute Schüler sind und weil auf uns Verlass ist." Er sagte, da sie keine Sicherheiten hätten, müssten sie einen Schuldschein ausfüllen. Nachdem sie ihn unterschrieben hatten, gab er ihnen das Geld, dass sie brauchten, um ihre Mission zu erfüllen.
Hinterher stellte sich heraus, dass dieser wunderbare Mensch den Jungen sein eigenes Geld geliehen hatte. (Mein Mann rief ihn am nächsten Tag an und bat um die gleichen Konditionen für einen Baukredit!) Im Gespräch kam heraus, dass der Mann oft sein Geld auf diese Weise verlieh, einschließlich einer großen Summe für die Ehefrau eines Marinesoldaten, die auf die Zahlung ihres Anteils am Lohn ihres Mannes wartete. Er meinte, dass fast alle Schuldner ihr Geld pünktlich zurückgezahlt hätten, und dass die Möglichkeiten, anderen Menschen auf diese Weise zu helfen, eine der lohnenswerten Seiten seines Job sei.
Mein Sohn und sein Freund fuhren gleich am nächsten Morgen wieder in die Stadt. Sie zahlten ihre Schulden und erhielten den unterschriebenen Schuldschein zurück. Die Bank hatte sich von ihrer besten Seite gezeigt."
Sharon Borjesson

Aus: "Hühnersuppe für die Seele - In Arbeit und Beruf"
Jack Canfield / Mark Victor Hansen


Geschichten dieser Art liebe ich ganz besonders. Sie erhalten mir meinen Glauben an das Gute im Menschen.
Wir werden mit negativen Meldungen regelrecht überflutet, so dass uns der Blick für die kleinen guten Taten beinahe abhanden gekommen ist. Intrigen, Sex und Gewalt in fast allen Sendungen im Fernsehn, da bleibt es nicht aus, dass Mistrauen und Gleichgültigkeit die Oberhand gewinnen. Dem möchte ich mit dem Einstellen dieser Geschichten etwas entgegensetzen. Vielleicht finden sich ja Leser die ähnlich denken und Freude daran finden.

Donnerstag, 14. Januar 2010

Eine Lektion von meinem Vater

Was du empfängst, erhält dich am Leben; aber erst was du von dir aus gibst, macht dein Lebens lebenswert.
Winston Churchill

Wir alle in unserer Familie sind die geborenen Geschäftsleute. Schon als Kinder arbeiteten wir alle sieben im väterlichen Geschäft mit dem wohlklingenden Namen: "Unser Laden für Haushalts- und Eisenwaren". Wir wohnten in Mott, einer kleinen Stadt in der Prärie North Dakotas. Am Anfang führten wir Kinder kleinere Arbeiten aus wie Staubwischen, Regale in Ordnung bringen und Waren einpacken. Erst später durften wir nach und nach auch Kunden bedienen. Während wir der Arbeit nachgingen und dabei Augen und Ohren offen hielten, lernten wir, dass man nicht nur arbeitet, um etwas zu verkaufen und zu überleben.
Eine Lektion ist mir noch heute gegenwärtig. Es war kurz vor Weihnachten. Ich war in der achten Klasse und war am säten Nachmittag in der Spielzeugabteilung beschäftigt. Ein kleiner Junge, fünf oder sechs Jahre alt, kam herein. Er trug eine zerlumpte braune Jacke mit abgewetzten Ärmeln und hatte struppige Haare. Seine Schuhe waren abgetragen, ein Schnürsenkel war ganz zerrissen. Der Junge wirkte arm auf mich - zu arm, um sich irgendetwas leisten zu können. Er schaute sich in der Spielzeugabteilung um, nahm diesen oder jenen Gegenstand aus dem Regal und stellte ihn jeweils wieder vorsichtig zurück.
Mein Vater kam die Stufen herunter und ging auf den Jungen zu. Seine stahlblauen Augen strahlten, als er den Jungen fragte, was er für ihn tun könne. Der Junge sagte, er suche ein Weihnachtsgeschenk für seinen Bruder. Ich war beeindruckt, dass mein Vater ihn mit dem gleichen Respekt behandelte wie einen Erwachsenen. Er meinte zu ihm, er solle sich Zeit lassen und erst mal alles in Ruhe anschauen. Was der Junge dann auch tat.
Nach ungefähr zwanzig Minuten nahm er vorsichtig ein Spielzeugflugzeug, ging zu meinem Vater und fragte: "Wie viel kostet das bitte?" "Wieviel Geld hast du denn bei dir?", fragte mein Vater zurück. Der kleine Junge streckte seine Hand aus und öffnete sie. Seine schmutzigen Finger waren ganz feucht, so sehr hatte er sein Geld umklammert. In seiner Hand lagen zwei Dimes, ein Nickel und zwei Pennys - zusammen siebenundzwanzig Cent. Der Preis des Flugzeugs, das er ausgesucht hatte, betrug fast vier Dollar.
"Das reicht gerade so", sagte mein Vater und besiegelte das Geschäft. Seine Antwort klingt immer noch in meinen Ohren wieder. Als der kleine Junge aus dem Laden ging, achtete ich nicht mehr auf seine schmutzige, zerlumpte Jacke, sein struppiges Haar oder den zerrissenen Schnürsenkel. Ich sah stattdessen ein strahlendes Kind mit einem Schatz.

La Vonn Steiner

(Aus: "Hühnersuppe für die Seelen - In Arbeit und Beruf", Jack Canfield / Mark Victor Hansen)


Das sind die Vorbilder, die unserer Gesellschaft fehlen. Jeder kann auf ähnliche Art und Weise etwas Wärme in die Welt bringen. Wir müssen nur die Augen aufmachen und sehen wollen.

Sonntag, 10. Januar 2010

Buchempfehlung

"Unzugehörig - Skizzen, Polemiken und Grotesken" von Roberto J. De Lapuente

Gesellschaftskritische Bücher gibt es viele, De Lapuentes Buch ist ganz anders. Quer durch alle Schichten der Gesellschaft legt er den Finger in die Wunde und demaskiert die bürgerliche Spießigkeit. Mal makaber, mal provokativ schreibt er sich die Wut von der Seele, ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten des Lesers zu nehmen. Konsequent vermeidet er, Ratschläge zu geben, wie es besser zu machen wäre. Der Leser bekommt für sein Geld ein Buch mit Texten wider den Stumpfsinn und geistiges Mittelmaß, wortgewaltig und für jeden verständlich geschrieben. Diesem Buch ist daher größtmögliche Verbreitung zu wünschen und es sollte zur moralischen Notfallausrüstung in jedem Haushalt gehören.

Samstag, 9. Januar 2010

Der blinde junge Mann

Wachstum bedeutet Veränderung und Veränderung beinhaltet Risiken - der Schritt vom Bekannten ins Unbekannte.
George Shinn

Busse, Züge, Flugzeuge und Flughäfen sind ein sicherer Ort für Fremde, um sich intime Geschichten zu erzählen, weil sie wissen, dass sie einander wahrscheinlich nie wieder sehen werden. So war es auch im Frühjahr 1983 auf dem New Yorker Flughafen La Guardia. Ich wartete auf meinen Flug, als ein großer, kräftig gebauter und gepflegt gekleideter Mann sich in seiner Anonymität sicher genug fühlte, um sich neben mich zu setzen und mir die folgende Geschichte zu erzählen:
"Ich war gerade dabei, mein Büro in Manhattan für den Feierabend aufzuräumen. Meine Sekretärin war schon vor einer halben Stunde gegangen, und ich hatte eben meine Sachen geordnet, als das Telefon klingelte. Es war Ruth, meine Sekretärin. Sie war ganz aufgeregt. 'Ich habe einen wichtigen Umschlag auf meinem Schreibtisch liegen lassen. Er muss sofort zum Blindeninstitut gebracht werden. Es ist nur wenige Häuserblocks entfernt. Wären Sie so nett, ihn dort vorbeizubringen?'
'Da haben Sie Glück, dass Sie mich noch erwischen, ich wollte gerade das Büro verlassen. Ja, ich kann Ihren Umschlag gerne dort vorbeibringen.'
Als ich im Blindeninstitut eintraf, kam mir ein Mann entgegen. 'Gott sei Dank sind sie da. Wir müssen sofort anfangen.' Er bot mir einen freien Stuhl an und bat mich, Platz zu nehmen. Bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, saß ich in einer Reihe von Menschen, die alle sehen konnten. Uns gegenüber saßen blinde Männer und Frauen. Ein junger Mann, ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt, stand an einem Ende des Raums und gab Anweisungen.
'Ich werde jetzt gleich diejenigen von Ihnen, die nicht sehen können, bitten, die Person, die Ihnen gegenübersitzt, kennen zu lernen. Nehmen Sie sich ruhig genügend Zeit, um die Gesichtszüge, die Frisur, die körperliche Statur, die Atemfrequenz und so weiter zu studieren. Wenn ich ein Zeichen gebe, werden Sie Ihren Arm ausstrecken und den Kopf der Person berühren, die Beschaffenheit ihres Haares fühlen und feststellen, ob es lockig ist oder glatt, dick oder dünn. Stellen Sie sich vor, welche Farbe es hat. Berühren Sie dann mit den Fingerspitzen die Stirn. Fühlen Sie die Beschaffenheit der Haut. Benutzen Sie beide Hände, um die Augenbrauen zu erkunden, dann die Augen, die Nase, die Wangen, die Lippen, das Kinn und den Nacken. Hören Sie, wie die Person atmet. Ist der Atem ruhig oder schnell? Können Sie den Herzschlag hören? Schlägt das Herz schnell oder langsam? Lassen Sie sich ruhig Zeit. Bitte fangen Sie jetzt an.'
Ich bekam auf einmal panische Angst und wollte sofort weg. Niemand darf mich anfassen ohne meine ausdrückliche Erlaubnis, schon gar nicht ein Mann. Mein Gegenüber fing an, mein Haar zu berühren. Mein Gott, wie unwohl ich mich fühlte! Nun berührten seine Hände mein Gesicht, ich fing an zu schwitzen. Er würde gleich meinen Herzschlag hören und merken, dass ich in Panik war. Ich musste mich beruhigen, durfte mir nicht anmerken lassen, dass ich mich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Als die Übung vorbei war, atmete ich erleichtert aus.
'Und nun', fuhr der junge Mann fort, 'haben auch die Sehenden die Möglichkeit, die Person zu ertasten die ihnen gegenüber sitzt. Schließen Sie die Augen, und stellen Sie sich vor, dass Sie diese Person noch nie in Ihrem Leben gesehen haben. Was würden Sie über diese Person erfahren wollen? Wer ist sie? Was sind ihre Gedanken? Welche Träume mag sie haben? Strecken Sie ihren Arm aus, und berühren Sie den Kopf Ihres Gegenübers. Fühlen Sie die Beschaffenheit des Haares. Welche Farbe mag das Haar wohl haben?'
Seine Stimme verhallte im Hintergrund. Bevor ich realisierte, was ich tat, lag meine Hand auf dem Gesicht des jungen Mannes, der mir gegenübersaß. Sein Haar war trocken und dicht. Mir fiel die Farbe seines Haares nicht mehr ein. Verdammt, ich konnte mich nie an die Haarfarbe von irgendjemandem erinnern.
Im rechten Licht betrachtet, schaute ich niemals irgendeinen Menschen wirklich an. Ich sagte Menschen immer nur, was sie tun sollten. Ansonsten konnte ich auf ihre Anwesenheit gut verzichten. Ich habe mich niemals wirklich um sie geschert. Mein Beruf war wichtig, und mich interessierten eigentlich nur die Geschäfte, die ich machte. Andere Menschen zu berühren, zu fühlen und kennen zu lernen war nicht mein Ding und würde es auch bestimmt niemals sein.
Ich fuhr unterdessen damit fort, die Augenbrauen, die Nase, die Wangen und die Haut des jungen Mannes zu fühlen. Ich merkte, dass ich innerlich weinte. Da war ein Gefühl der Zärtlichkeit in meinem Herzen, das ich bislang nicht gekannt hatte, eine Verletzlichkeit, die ich weder mir selbst noch einem anderen Menschen jemals offenbart hatte. Ich spürte sie und hatte Angst. Mir war klar, dass ich hier nicht lange bleiben konnte. Gleich würde ich weggehen und nie mehr zurückkommen.
Träume? Hat dieser junge Mann vor mir Träume? Was gehen sie mich an? Er bedeutet mir nichts. Ich habe zwei Kinder im Teenager-Alter und kenne noch nicht einmal ihre Träume. Außerdem haben sie nur Autos, Sport und Mädchen im Kopf. Wir reden nicht viel miteinander, und ich glaube nicht, dass sie mich sonderlich mögen. Ich weiß nicht, ob ich sie überhaupt verstehe. Meine Frau? Nun, sie macht ihr Ding, und ich mache meins.
Ich schwitzte, und mein Atem ging schwer. Der Übungsleiter bat uns, zum Ende zu kommen. Ich nahm meine Hand herunter und setzte mich zurück. 'Nun kommen wir zum letzten Teil der Übung'. hörte ich ihn sagen. 'Sie haben jetzt drei Minuten Zeit, um sich mit ihrem Gegenüber über ihre Erfahrung beim Versuch, den anderen kennen zu lernen, auszutauschen. Teilen Sie Ihrem Partner mit, was Sie denken und fühlen. Erzählen Sie, was Sie von ihm oder ihr gelernt haben. Die blinde Person fängt bitte an.'
Der Name meines Übungspartners war Henry. Zuerst erzählte er mir, dass er schon dachte, keinen Partner für den Abend zu haben, und wie froh er sei, dass ich es noch rechtzeitig geschafft habe. Er meinte, er habe fühlen können, dass ich wirklich den Mut besitze, meine Gefühle und Emotionen offen zu legen. 'Ich war beeindruckt', sagte er, 'dass Sie die Anleitungen ausführten, obwohl Sie einen ziemlichen Widerwillen dagegen hatten, Ihr Herz ist sehr groß, aber auch sehr einsam. Sie möchten mehr Liebe in Ihrem Leben, wissen aber nicht, wie Sie darum bitten können. Ich bewundere Ihre Bereitschaft, die Seite in sich zu entdecken, die sich nach einer Veränderung sehnt. Ich weiß, dass Sie am liebsten aus dem Raum gerannt wären, aber Sie haben es nicht getan, sondern sind geblieben. Ich habe mich beim ersten Mal auch so gefühlt. Inzwischen habe ich aber keine Angst mehr vor dem, der ich wirklich bin. Es ist okay für mich zu weinen, Angst zu haben, Panik zu kriegen, wegrennen zu wollen, sich von anderen abzukapseln, sich in die Arbeit zu verkriechen. Das sind alles ganz normale Empfindungen, und ich lerne sie immer mehr zu akzeptieren und zu schätzen. Vielleicht haben Sie ja Lust öfter hierher zu kommen und herauszufinden, wer Sie wirklich sind.'
Ich schaute dem jungen, blinden Henry in die Augen und begann zu schluchzen. Ich brachte sonst keinen Ton heraus, es gab auch nichts zu sagen. Ich war noch nie in meinem ganzen Leben an solch einem Ort gewesen. Ich hatte niemals zuvor solch eine bedingungslose Liebe und Weisheit erfahren. Die einzigen Worte, die ich meiner Erinnerung nach zu Henry sagte, waren: 'Ihr Haar ist braun, und Ihre Augen strahlen.' Er war wahrscheinlich die erste Person in meinem Leben, deren Augen ich niemals vergessen werde. Ich war der Blinde, und Henry hatte die Vision zu sehen, wer er war.
Die Übung war zu Ende, und alle Anwesenden erhoben sich. Ich zog den Umschlag aus meiner Tasche und überreichte ihn dem Übungsleiter. 'Meine Sekretärin wollte ihn eigentlich schon früher vorbeibringen. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen den Umschlag erst jetzt geben kann.'
Der junge Mann nahm den Umschlag und lächelte. 'Es war meine erster Übungsabend dieser Art. Ich habe auf die Unterlagen gewartet, um zu wissen, was ich tun sollte. Als Sie nicht rechtzeitig kamen, musste ich eben auf meinen inneren Souffleur hören. Ich habe gar nicht bemerkt, dass Sie nicht einer der regulären Freiwilligen waren. Entschuldigen Sie bitte alle Unannehmlichkeiten.'
Ich habe niemandem davon erzählt, nicht einmal meiner Sekretärin, dass ich jetzt an zwei Abenden in der Woche ins Blindeninstitut gehe. Ich kann es nicht in Worte fassen, aber es fühlt sich so an, als ob ich anfangen würde, Liebe für andere Menschen zu empfinden. Bitte erzählen Sie niemandem in der Wall Street, was ich eben zu Ihnen gesagt habe. Wissen Sie, dies ist eine Welt, in der der eine den anderen frisst, und ich möchte gern die Kontrolle behalten. Aber will ich das wirklich? Es scheint, als wären mir meine Antworten abhanden gekommen.
Ich weiß, dass ich noch viel lernen muss, wenn ich will, dass mich meine Söhne respektieren. Es ist schon komisch, früher hätte ich so etwas nie gesagt. Es war klar, dass Kinder ihre Eltern respektieren müssen, zumindest hat man mir das so beigebracht. Vielleicht aber müssen beiden Seiten etwas tun, und wir können gemeinsam lernen, uns gegenseitig zu respektieren. Als Erstes habe ich angefangen, mich selbst anzunehmen und zu lieben."

Helice Bridges

Aus: "Noch mehr Hühnersüppchen für die Seele" von Jack Canfield und Mark Victor Hansen

Freitag, 8. Januar 2010

Gesucht wird...

Gesunder Menschenverstand
Zivilcourage
Mitgefühl
Einfühlungsvermögen
Solidarität...

zum Aufbau einer Gesellschaft, in der das Leben für alle Menschen lebenswert ist. Eine Gesellschaft, die es jedem ihren Mitglieder ermöglicht, seinen Fähigkeiten gemäß dem Gemeinwohl dienlich zu sein.

Anlaufstelle: dritter Planet im Sonnensystem.

Mittwoch, 6. Januar 2010

Hundert Prozent Sicherheit - Null Prozent Freiheit

Auf 3sat sah ich mir eben das "Nachrichtenmagazin des Schweizer Fernsehens" an. In einem Beitrag ging es um den verhinderten Flugzeuganschlag. Ein Journalist fragte irgendeinen Experten, wie es möglich sein konnte, dass dieser Mann problemlos ins Flugzeug kam und in die USA fliegen konnte, da er doch auf der Terrorliste stand. Der Experte antwortete, dass das mit dieser Liste nicht so einfach wäre, da stünden sehr viele Namen drauf. Auch Senator Edward Kennedy hätte einst auf der Terrorliste gestanden und wäre sogar zweimal daran gehindert worden, von Washington aus nach Hause zu fliegen.

Wo soll dieser Sicherheitswahn eigentlich hinführen? Stundenlanges warten beim Einchecken, Nacktscanner, eine Stunde vor der Landung verschlossenen Toiletten.
Was kommt noch alles? Vielleicht der elektronische Sicherheitsgurt? Für jeden Fluggast einen Sicherheitsbeamten?
Na dann, angenehmen Flug

Samstag, 2. Januar 2010

Zitat

Die Wahrheit ist naturgemäß tendenziös. Die Wahrheit in Ghana unterscheidet sich zweifellos von der Wahrheit in den Vereinigten Staaten. Ich könnte unmöglich vor Gericht schwören, dass ich die Wahrheit sagen werde. Ich könnte nur schwören, meine Wahrheit zu sagen ...
Sir Peter Ustinov