Dienstag, 26. Mai 2009

Die Nähstunde

von Wolfram Eicke

Ein Schuster klagte auf dem Sterbebett den Engel seines Schicksals an: „Du hast mir nie eine Chance gegeben! Wo alle Welt die Schuhe lieber wegwirft, als sie reparieren zu lassen, mußte ich ausgerechnet Schuster sein! Kampf ums Überleben, andauernd gehetzt, ratternde Maschinen ...“
„Ich soll dir keine Chance gegeben haben?“ Das mochte der Schicksalsengel nicht auf sich sitzen lassen. „Sicher ein Lottogewinn war nicht dabei. Aber fünfzig Jahre lang habe ich dir jeden Tag eine neue Chance gezeigt – du hast sie nur nicht gesehen.“
Im Todesfieber betrachtete der Schuster vor dem inneren Auge sein Leben wie einen Film in rasender Geschwindigkeit. Ihm fiel nichts auf.

„Nehmen wir einen beliebigen Tag“, sagte der Schicksalsengel, „zum Beispiel diesen hier.“ Er stoppte an einem verschwommenen Einzelbild und stellte es schärfer. „Erinnerst du dich?“
Ein fremder Kunde war damals in den Laden gekommen und hatte eine uralte Aktentasche zum Nähen gebracht. Der Griff, bestehend aus fünf dicken Lederschichten, war nur noch von einigen ausgefransten Fäden zusammengehalten worden.
Das soll wohl ein Scherz sein! hatte der Schuster gedacht. Für so ein schäbiges Ding wird doch niemand mehr Geld ausgeben! Vor Jahrzehnten mag die Tasche einmal teuer gewesen sein, das dicke Leder ist zwar fleckig und abgenutzt, aber immer noch stabil. „Allein um den Griff zu nähen, würde ich eine volle Stunde brauchen!“
„Ich hänge an der Tasche“, hatte der Kunde gesagt. „Wann wird sie fertig sein?“
„Am Mittwoch.“
Obwohl er kaum geglaubt hatte, daß der Kunde zurückkommen würde, hatte der Schuster zwischen einigen anderen Arbeiten den Griff geleimt und mit der Maschine klack, klack, klack drei dicke Nieten durchgejagt.
Der Kunde hatte die Tasche abgeholt und dabei die Nieten befühlt. „Nähen wäre mir eigentlich lieber gewesen, aber dafür ist es wohl zu spät.“
„Wissen Sie, was das für eine Mühe gewesen wäre?“ hatte der Schuster gerufen. „Das macht mir keine Maschine, und es hätte mindestens siebzig Mark gekostet! Und woher weiß ich, ob jemand so eine alte Tasche überhaupt abholt?“
„Ich sagte Ihnen doch, daß ich an der Tasche hänge. Solide, alte Handarbeit – so etwas gibt es schon lange nicht mehr.“ Der Kunde hatte die geforderten zehn Mark aus einem Geldscheinbündel bezahlt, seine Tasche genommen und das Geschäft verlassen.
Der Schuster hatte noch kurz über diesen schrulligen Kauz gelacht und ihn dann sofort vergessen.
Jetzt schaute er aus fiebrigen Augen den Engel seines Schicksals an: „Und wo, bitte schön, soll dabei meine Chance gewesen sein?“
„Die Gedanken“, hörte er als Antwort, „du hättest die ratternden Maschinen abschalten können, Stich für Stich den Griff nähen ... Und die Gedanken, die dir dabei gekommen wären, hätten dein Leben verändert.“
„Diese eine blöde Stunde?“
„Jeden Tag“, sagte der Engel des Schicksals, „jeden Tag, die Gelegenheit für eine Stunde Ruhe und Freude.“
Mit geschlossenen Augen sah der Schuster das Bild: eine Stunde nähen – er sitzt, es ist still, er näht, und er träumt dabei.
Der Schuster atmete tief aus und lächelte. „Jeden Tag ...“, murmelte er. Im Zimmer wurde es still. Es war alles gesagt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen